Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler wählten Irina aus, die Abiturrede zu halten, die sie mit der gebotenen Ernsthaftigkeit ausarbeitete und vortrug.

Im Schluss der Rede erst erkennt man  sie wieder, wie sie für uns noch heute in Erinnerung ist.

 

Rede zur Abschlussfeier der Abiturientia 1995

Sehr geehrte Sr. Diemut, liebe Lehrer, liebe Eltern, werte Gäste !

Stellvertretend für meinen ganzen Jahrgang begrüße ich Sie herzlich zur Entlassungsfeier der Abiturientia 1995.

Als man mich mit der Aufgabe betraute, eine Rede zu diesem Anlaß zu halten, mußte ich mich, mehr oder weniger freiwillig, mit passender Literatur beschäftigen, die mir, so hoffte ich zumindest, den Grundstein für diese Arbeit liefern sollte. Ich wurde fündig.

Ich stieß auf ein Sprichwort von Archimedes, das mich in unserer besonderen Situation ansprach und nicht mehr los ließ.

- Gebt mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen.-

"Was für ein Wort", das Archimedes vor so langer Zeit auszusprechen wagte.

- Gebt mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen.-

- Gebt mir einen Platz !-

Es ist eine deutliche Aufforderung an die alte griechische Gesellschaft, Platz für die Nachkommenden zu schaffen, d.h. Bedingungen zu schaffen, damit ein jeder einen Platz finden kann, an dem er sein Gelerntes, sein Wissen und sein Können einbringen kann.

Auch wir erhoffen dies und stellen die gleichen Anforderung an unsere Gesellschaft heute, mit der Zuversicht, daß das, was uns durch unsere Eltern, durch unsere nähere Umgebung und auch durch unsere Lehrer und diese Schule vermittelt wurde, dazu beiträgt, diesen Platz auszufüllen.

Hier denke ich nicht nur an das Wissen, welches uns in den 13 Schuljahren mit gegeben wurde, sondern auch an Werte, die es einem erst ermöglichen, einen Platz in der Gesellschaft verantwortungsvoll einzunehmen. Dazu gehört für mich gleichermaßen Einsatzbereitschaft und Durchsetzungsvermögen wie Toleranz und Rücksichtnahme, aber auch Zivilcourage und Mut gegen den Strom zu schwimmen.

Wir, die wie Archimedes auch, nicht irgendeinen Platz haben wollen, sondern einen Platz, an dem wir aufrecht stehen können, mit Stolz und Zuversicht, haben die Aufgabe, uns um einen solchen Platz zu bemühen.

Aber Plätze, an denen man stehen und das Leben überblicken kann, sind keine Zuschauerplätze, die ein Sitzen mit übereinandergeschlagenen Beinen ermöglichen, und es sind auch nicht die Plätze, wo man sich bequem zurücklegen kann. Es sind keine Plätze am Küchenfenster, die ein unbeteiligtes Beobachten des Lebens auf der Straße zulassen. Vielmehr sind es in der Regel eher unbequeme Plätze, die durch Verantwortung und Anforderung einengen und das gerade Stehen nahezu unmöglich machen. Das sind die Plätze, die von uns verlangen alle Register zu ziehen, die uns unsere Erfahrung, unser Können und das Leben zu Verfügung stellen.

Das ist, so denke ich, den meisten von uns bewußt, und es sind ja auch nicht die bequemen Plätze, die wir für uns suchen.

Wir möchten in Bereichen der Gesellschaft Einfluß nehmen. Wir möchten, daß unsere Kritik gehört und nicht als unbedeutend abgetan wird.

Wir möchten für voll genommen werden.

Dazu gehört viel Selbstbewußtsein und dieses spiegelt sich auch im zweiten Teil des Zitats .. „und ich werde die Erde bewegen“ wider.

Fast erscheint mir dieses Ziel zu hoch gesteckt, um es wirklich erreichen zu können.

Doch gleichzeitig stellt sich bei mir auch Freude ein. Freude darüber, daß dies, wenn auch in einem kleineren Rahmen, möglich sein könnte. Und ich vertraue darauf, daß wir, wenn wir unseren Platz in der Gesellschaft gefunden haben werden, diese zum Guten bewegen, beeinflussen, lenken und führen können. Ich vertraue darauf, daß wir gelernt haben, auch dann stehen zu bleiben, wenn alle anderen weglaufen.

Dieses Vertrauen sollte uns alle tragen, denn wir haben, ob es uns in diesem Moment bewußt ist oder nicht, mehr gelernt als mathematische Formeln, unregelmäßige Verben und Fachbegriffe.

Immer wieder wurde uns in der Schulgemeinschaft, im Jahrgang und auch in unseren Familien gezeigt, daß allein erst unsere Haltung zu unseren Mitmenschen, der aufrechte Gang und die Zivilcourage uns zu Persönlichkeiten machen, die etwas bewegen können. Dafür möchte ich mich im Namen meiner Mitschüler und Mitschülerinnen, bei unseren Lehrern und unseren Eltern bedanken.

Und ich hoffe, daß jeder von uns, mit etwas Glück, den Platz finden wird, den Archimedes meinte, als er sagte:

„Gebt mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen“

  

Also dann,....auf die Plätze   -  fertig   -  los!